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Ein Land am Ende der Welt, ein Land voller Geschichten und Geheimnisse: Aus der Perspektive des Reisenden ist Schottland eine Mischung aus uneinlösbarem Traum und beinahe schmerzhaftem Sehnsuchtsort. Diese exponierte Lage im Herzen aller Fernweh-Junkies verdankt Schottland vor allem seiner sowohl gefühlten als auch realen Distanz zu allen anderen Orten der Welt. Beinahe überall auf unserem Globus befindet man sich zwischen zwei Punkten, zwischen Heimat und Unbekanntem, zwischen Nah und Fern – Schottland liegt aber auf dem Weg nach Nirgendwo. Nordatlantik, Ende. Nicht einmal auf dem Weg nach Island oder Nordamerika würde man einen Zwischenstopp in Schottland einlegen, das Land ist eine Sackgasse. Danach kommt einfach nichts mehr und deshalb muss Schottland selbst das Ziel sein. Grau, karg, windgepeitscht, von Menschen bevölkert, die als geizig, streitsüchtig und eigenwillig gelten. Das Essen soll schlecht sein, die Lochs abgrundtief, die Ungeheuer riesig und das Wetter miserabel. Weshalb also Schottland?

  • Vielleicht ja gerade deshalb: Weil man sich dieses Land ganz bewusst vorenthält und dann zumutet, weil man hier nicht einfach mal vorbeikommt und Schottland deshalb Reisen für Fortgeschrittene bedeutet. Und wen dieser bildungsbürgerlich-philosophische Ansatz nicht kitzelt, den lockt vielleicht das Abenteuer, das Andere, Ursprüngliche und Unerklärliche. Auch wenn diese gefühlige Schwärmerei für ein sagenumwobenes Land im Norden vielleicht nur ganz wenig mit der Realität Schottlands zu tun hat.

    Erklärungsversuch: Wir alle leben in einer Welt, die vom Geist des römischen Imperiums durchdrungen ist, unsere Sprache, unsere Wissenschaft, unsere Maßeinheiten, unsere Technologie, unsere Ordnung, unsere Technologie, unsere Politik, unser Militär, unsere Zivilisation, unsere Religion – kurz gefasst: Unsere gesamte Art zu denken ist auch rund 1500 Jahre später immer noch schockierend intensiv von einem guten Jahrtausend römischer Herrschaft über Europa und den Mittelmeer-Raum geprägt. In diesem unterbewussten Koordinatensystem ist Schottland nach wie vor diese geheimnisvolle Gegend jenseits des Bekannten. Was dort nördlich des Hadrianswalls passierte, hat jahrhundertelang Mythen gefüttert und Vorurteile genährt, ohne je eine Chance auf Klarstellung gehabt zu haben. Unser Schottland-Bild ist also verzerrt, weil bereits die Brille nicht stimmt, durch die wir den Norden Großbritanniens sehen.

  • Ein naives Kind in uns überzieht das Bild von Schottland mit dem Zuckerguss von Sehnsucht nach Rauheit, Echtheit und Heidentum, will das wilde Land eins sehen mit dem ungebeugten Freiheitsdrang der „Kelten“ (zu denen die Schotten in unserer süßlichen Verklärung kurzerhand werden), möchte etwas wahr- und liebhaben, das in unserer abgebrühten Zivilisation längst verloren scheint – und übersieht dafür gerne das wahre Schottland. Unterwegs in den Norden der britischen Insel empfiehlt es sich also, ein paar Minuten für die Geschichte Schottlands zu investieren. Clan-Kriege, William Wallace, Maria Stuart und so weiter. Klassischer Realitätscheck. Sie wollen jetzt schon wissen, wie es ausgeht? Nur so viel: Heutige Schotten tragen ganze gerne mal einen Slip unterm Kilt ...

    Übrig bleibt das Land. Knapp 80 000 Quadratkilometer, die sich schon rein geologisch mit England schwertun: Als erdgeschichtliche Landdrift hat sich der Felsbrocken, den wir heute Schottland nennen, vor zig Millionen Jahren irgendwo in Nordamerika losgezappelt, Kurs auf (das was heute) Europa (ist) genommen und dabei zufällig England gerammt. Liebesgeschichten gehen irgendwie anders. All der geologische Stress hat jedenfalls dafür gesorgt, dass Schottland seine Highlands hat – die ehemals bis auf 8000er-Niveau aufgefaltete Gebirgsgegend ist heute immer noch sagenhaft schroff, Eiszeit-Gletscher haben allerdings für Nivellierung gesorgt. Als höchster Berg Schottlands und Gesamt-Großbritanniens ist der Ben Nevis nur noch 1345 Meter hoch. Der Reiz der schottischen Highlands liegt allerdings nicht in ihrer Höhe, sondern in ihrer Textur: tiefe und lange Täler, die jeden Verkehr in ihren Wuchsrhythmus zwingen, ein feuchtes Klima aus Atlantik und Golfstrom, das für üppige Vegetation sowie mit Wasser vollgesogene Moore sorgt – und natürlich die Lochs. Seen in allen Größenordnungen, von Tümpel-klein bis Fjord-riesig. Die Highlands sind eine Gegend von gefühlter Unendlichkeit und großer Zeitlosigkeit. Wer hier stundenlang für wenige Kilometer braucht, während er über winzige Straßen streunt, die ihren Ursprung in alten Clan-Pfaden haben, fühlt sich regelrecht verschluckt von dieser mächtigen Landschaft unter einem turbulenten Himmel.

  • Sowieso, die Straßen ... Da haben wir sie ja wieder, unsere Romanisierung: Die großen Straßen Europas verlaufen immer noch auf den alten Trassen der Römer; wir haben uns an die entfernungsverachtende Dreistigkeit gewöhnt, mit der sie als Effizienz-Instrument einer kühlen Verwaltung auf möglichst funktionalen Routen durchs Land schneiden. Im Land der Barbaren gibt es das nicht. Schottische Straßen sind lokal. Sie schmiegen sich ganz organisch an Berghänge und schlängeln sich durch Täler, man spürt ihnen ab, dass sie nicht vom Straßenbauer auf einem Blatt Papier geplant, sondern von Füßen und Hufen ins Land getreten wurden. Sobald man sich an ihren kleinteiligen Rhythmus gewöhnt hat, wie sie von Brücke zu Brücke, von Hügel zu Hügel, von Loch zu Loch schwingen, verfällt man ihnen restlos. In ihrer Selbstverständlichkeit liegt eine wunderliche Schönheit, die einen dazu zwingt, in ebenso überschaubaren Etappen zu denken. Gewaltige Tagestouren, wie sie auf US-amerikanischen Highways oder deutschen Autobahnen machbar sind, werden in Schottland unwirklich und unnötig. Denn auf einmal beginnt das Land Geschichten zu erzählen, die jeden in ihren Bann ziehen.

    Weshalb also Schottland? Weil man in den meisten Gegenden dieser Welt ausgezeichnet unterwegs sein kann, im Sog der Reise aber nur selten ankommt. In Schottland ist das genau andersherum. Hier ist überall das Ziel.